Thalassämien zählen zur Gruppe der Hämoglobinopathien und werden autosomal rezessiv vererbt. Sie basieren auf einer reduzierten oder gestörten Globinkettensynthese, wodurch die Bildung von normalem Hämoglobin gestört ist. Je nachdem, welche Globingene betroffen sind, unterscheidet man zwischen Alpha- und Beta-Thalassämien.1,2
Beta-Thalassämien werden anhand klinischer Gesichtspunkte in 3 Grundtypen klassifizert:1,2
Die Beta-Thalassaemia major ist auch als Cooley-Anämie bekannt.
Beta-Thalassämien zählen zu den häufigsten monogenetischen hereditären Erkrankungen und sind vor allem in Ländern des Mittelmeerraumes, des Nahen und Mittleren Ostens sowie auf dem indischen Subkontinent, in Südostasien und in Afrika beheimatet.3,4 Da Menschen mit der heterozygoten Beta-Thalassämie vor schweren Verläufen der durch den Erreger Plasmodium falciparum ausgelöstem Malaria tropica geschützt sind, hat die natürliche Auslese eine Häufung der genetischen Variante in Malaria-Regionen begünstigt.5
Die Prävalenz des Trägerstatus liegt dort zwischen 5 und 30 %1, wohingegen die Erkrankung in Deutschland vergleichsweise selten auftritt: Die Prävalenz der heterozygoten Beta-Thalassämie liegt in der aus Deutschland stammenden Bevölkerung wird auf 0,01 % geschätzt.6 Aufgrund von Migration konnte in den letzten Jahrzenten allerdings eine erhebliche Zunahme von Patienten und Trägern im mitteleuropäischen Raum verzeichnet werden.7
Da die Vererbung autosomal erfolgt, sind Männer genauso häufig betroffen wie Frauen.
Die Thalassaemia major verursacht hochgradige Anämie, die bei betroffenen Kindern ohne Behandlung noch vor dem Alter von 3 Jahren zum Tod führt. Eine höhere Lebenserwartung kann allerdings durch regelmäßige Bluttransfusionen und Chelattherapien oder allogene Bluttransplantationen erzielt werden.8,9 Auch die Thalassaemia intermedia erfordert regelmäßige klinische Kontrollen, um einen möglichen Transfusionsbedarf rechtzeitig zu erkennen und die Transfusionstherapie analog zu der bei der Thalassaemia major zu beginnen.1
Beta-Thalassämien werden von Mutationen im β-Globingen (HBB) verursacht, das sich auf dem Chromosom 11 befindet.3 Es werden derzeit mehr als 260 verschiedene genetische Varianten unterschieden, die primär durch Punktmutationen entstehen. Dabei kann die Genexpression auf allen Ebenen des Gens der β-Kette betroffen sein, wodurch folgende Genvarianten auftreten können:4,10
Der dadurch entstehende Mangel an funktionstüchtigen β-Globinketten geht mit einer gestörten Bildung von Hämoglobin mit hypochromer Anämie und zum Überschuss an α-Globinketten einher, wodurch eine hochgradig ineffektive Erythropoese und eine geringgradige Hämolyse verursacht werden.1
Bei der homozygoten oder der compound-heterozygoten Form (Vorliegen von unterschiedlich mutierten Allelen des Gens) variiert der klinische Phänotyp und entsprechend der Schweregrad – je nachdem, welche Genvariante vorliegt bzw. wie stark die Aktivität des HBB-Gens eingeschränkt ist.1 Darüber hinaus gibt es die Gruppe der Beta-anomalen Hämoglobinvarianten, die entweder durch eine verminderte Produktion oder eine erhöhte Instabilität phänotypisch das Krankheitsbild einer β-Thalassämie
verursachen.1Der humangenetischen Beratung von Betroffenen und Familien kommt bei Beta-Thalassämien entsprechende Bedeutung zu. Zur primären Prävention ist eine Beratung in der Schwangerschaft basierend auf einer Pränataldiagnostik mittels DNA-Analyse möglich. Zu beachten ist dabei, dass bei Beta-Thalassämien kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Genotyp und Phänotyp besteht.1,2
Klinisches Bild
Beta-Thalassaemia minor
Träger der Beta-Thalassaemia minor haben keine oder nur wenige Symptome: Bei rund 20% der Betroffenen ähneln diese denen bei milder Eisenmangelanämie.11 Lediglich bei gleichzeitigem Auftreten von Eisenmangel kann es zu einer ausgeprägten Anämie
kommen.1Beta-Thalassaemia intermedia
Der Beta-Thalassaemia intermedia liegen meist homozygote oder compound-heterozygote Formen zugrunde, bei denen primär keine chronische Transfusionsbedürftigkeit – im Gegensatz zur Thalassaemia major – besteht.1 Das klinische Spektrum der Erkrankung ist sehr breit, wobei leicht betroffene Patienten meist erst im Erwachsenenalter mit mäßiger Anämie bei Hämoglobinwerten von 8–10 g/dl auffallen. Schwerer betroffene Patienten hingegen werden im Alter von 2 bis 6 Jahren mit klinischen Veränderungen aufgrund der ineffektiven Erythropoese oder Anämiesymptomen auffällig. Zuvor sind Wachstum und Entwicklung bei Hämoglobinwerten von 7–8 g/dl meist unauffällig.
Eine besondere Herausforderung bei der Beta-Thalassaemia intermedia ist das rechtzeitige Erkennen des Beginns des Transfusionsbedarfs,2,4,12 wobei bei der Indikationsstellung die klinische Situation und nicht der gemessene Hämoglobinwert entscheidend ist. Je nach klinischer Indikation muss der Bedarf an Transfusionen abgewogen werden.2,12
Vorübergehende Besserung der Anämie kann eine operative Entfernung der Milz herbeiführen, allerdings bei einem hohen Risiko für Postsplenektomie-Komplikationsen.13
Beta-Thalassaemia major
Bei der Beta-Thalassaemia major handelt es sich um eine schwere Erkrankung, die bereits im Verlauf des ersten Lebensjahres folgende klinische Symptome zeigt:3,4
Bei unzureichender Therapie können häufige Infektionen, Wachstumsretardierung und Knochendeformierungen – darunter die für die Beta-Thalassaemia major charakteristische Facies thalassaemica (hohe Stirn, Verbreiterung der Diploe, Prominenz von Jochbein und Oberkiefer) – auftreten.1,2 Aufgrund der hochgradig ineffektiven Erythropoese und geringgradiger Hämolyse kommt es zu einer sehr schweren mikrozytär-hypochromen Anämie, die mit einer lebenslangen Transfusionsbedürftigkeit einhergeht. Durch die regelmäßige Transfusionstherapie kommt es aufgrund der parenteralen Eisenzufuhr zur ausgeprägten Eisenüberladung (sekundäre Hämochromatose), zu der die erhöhte intestinale Eisenresorption wegen der gesteigerten, ineffektiven Eigenerythropoese – je nach Effizienz der Transfusionstherapie – beiträgt.1
Folgeerkrankungen bei unzureichender Therapie der Beta-Thalassaemia major:
Folgeerkrankungen bei unzureichender Therapie der Beta Thalassaemia major oder als Folge der sekundären Hämochromatose
Die initiale Labordiagnostik umfasst folgende Parameter:
Charakteristische Parameter des Blutbildes und der Hb-Analyse bei den einzelnen Thalassämie-Formen:
Die Diagnose kann durch die charakteristische thalassämische Erythrozytenmorphologie und den stark erhöhten HbF-Anteil in der Hämoglobinanalyse gesichert werden.2 Der Nachweis der Thalassämie-Mutation erfolgt über eine DNA-Analyse.
Bei folgenden Indikationen werden molekulargenetische Untersuchungen veranlasst:
Symptomatische Therapie
Transfusionstherapie
Die symptomatische Behandlung besteht bei der Thalassaemia major – und bei entsprechender klinischer Symptomatik auch bei der Thalassaemia intermedia – aus einer regelmäßigen Transfusionstherapie mit dem Ziel der Behebung der Anämie und ihrer Folgen sowie der Unterdrückung der ineffektiven Erythropoese. Je nachdem, ob es sich um Patienten mit Thalassaemia major oder intermedia handelt, wird die Transfusionstherapie entsprechend im Säuglingsalter oder abhängig vom klinischen Verlauf begonnen.13,14
Eisenchelattherapie
In Kombination mit der Transfusionstherapie kommt sowohl bei der Thalassaemia major als auch intermedia eine Chelattherapie zur Vermeidung einer Eisenüberladung zum Einsatz. Ziel ist es das Gesamtkörpereisen soweit zu reduzieren, dass das Risiko für Komplikationen der sekundären Hämochromatose sinkt und gleichzeitig Nebenwirkungen der Chelattherapie vermieden werden.1 Zielwert ist ein Lebereisengehalt von < 5 mg/g (MRT-basiert). Zum Einsatz kommen in der Primär- und Sekundärtherapie verschiedene Eisenchelatbildner. Bei Patienten, die trotz Chelattherapie eine schwere Eisenüberladung aufweisen, können Kombinationstherapien oder alternativ eine 24-stündige intravenöse Infusionstherapie mit einem Chelatbildner über einen zentralvenösen Katheter angewendet werden.
Therapie der Folgeerkrankungen
Bei der Thalassaemia major ist darüber hinaus die Behandlung möglicher Folgeerkrankungen, die entweder von der Grunderkrankung oder der sekundären Hämochromatose hervorgerufen werden, notwendig.1
Kausale Therapie
Allogene Stammzelltransplantation
Therapie der Wahl bei Patienten mit Beta-Thalassaemia major stellt die Transplantation mit hämatopoetischen Stammzellen eines HLA-identischen Familienspenders dar.2,13,15 Die Durchführung erfolgt i.d.R. im Kindesalter, da bei Erwachsenen meist bereits Organschäden vorliegen, die zu transplantationsassoziierten Komplikationen führen können. Nicht-verwandte Spender können eine geeignete Option sein, allerdings muss eine stringente Spenderauswahl erfolgen, um transplantationsassoziierten Komplikationen zu vermeiden. 2,16,17
Bei der Entscheidung für oder gegen allogene Stammzelltransplantation müssen jedoch die transplantationsassoziierte Morbidität und Mortalität gegen die Risiken einer Eisenüberladung und anderen Folgen einer langfristigen Transfusionstherapie abgewogen werden.
Gentherapie
Seit 2010 wird die Möglichkeit einer Gentherapie mit Hilfe eines lentiviralen Vektors erforscht. Ersten Studien zufolge erzielte es bei der Mehrzahl der Patienten mit mindestens einem β+-Allel oder HbE/β-Thal eine langdauernde Transfusionsfreiheit; Patienten mit β0-Thalassämie zeigten meist lediglich einen deutlichen Rückgang des Transfusionsbedarfes.18 Eine eingeschränkte Zulassung gibt es seit 2019 bei Patienten ab zwölf Jahren mit transfusionsabhängiger β-Thalassämie, die nicht den homozygoten Genotyp β0/β0 tragen sowie keinen passenden Spender für eine Transplantation haben.19
Darüber hinaus werden alternative Ansätze, wie z. B. die Inaktivierung von BCL11A, mit dem Ziel einer permanent erhöhten HbF-Synthese als Ausgleich des β-Globinketten-Mangels, untersucht.
Zytostatika
Zur Induktion der Bildung von HbF und die Erhöhung primär HbF-produzierender Zellen kann ein Zytostatikum eingesetzt werden, das bei Patienten mit Thalassaemia intermedia bislang als einziges Medikament zum Anstieg des Hämoglobingehaltes führte.20 Der Einsatz muss aber aufgrund fehlender randomisierter Studien sorgfältig abgewogen werden.1
Erythrozyten-Reifungs-Aktivator
Einen neuen Ansatz zur Therapie der transfusionsabhängigen Anämie stellt die Behandlung mit einem Erythrozyten-Reifungs-Aktivator dar.1 Dabei handelt es sich um ein rekombinantes Fusionsprotein aus der modifizierten extrazellulären Domäne eines Activin-Rezeptors und humanem IgG1-FC-Domäne. Substanzen dieser Wirkstoffklasse binden Liganden der TGF-Familie und hemmen die Aktivierung des SMAD2/3-Signalwegs, der die Differenzierung von erythroiden Vorläuferzellen inhibiert21. Die Zulassung des bisher einzigen Präparates aus dieser Wirkstoffklasse erfolgte im Frühjahr 2020.